»Ich wünsche mir, dass Leute sich gesehen fühlen.«

Musikerin Ronja im Interview über ihre Gefühlswelt als Trennungskind, warum sie sich mit ihren Songs verletzlich macht und was sie sich für ihre neue EP Ding im Brustkorb wünscht.

Interview & Fotos Florian Saeling 

Interview & Fotos Florian Saeling 

Ich würde gerne mit deinem neuen Song einsteigen: Eine Familie ist ja ein sehr persönlicher Song. Wann hast du das Gefühl gehabt, dass du dieses Thema verarbeiten willst?
Tatsächlich ist es bei der EP so gewesen und auch bei dem Song, dass das Dinge waren, die tatsächlich das erste Mal so richtig präsent in meinem Kopf erst in den Sessions waren, in denen ich den Song geschrieben habe.

Ich hatte letztes Jahr im November ein Telefonat mit meiner Mama und dann ist mir das erste Mal in den Kopf gekommen: „Warte mal, wie war das eigentlich, als meine Eltern noch zusammen waren und wir als Familie irgendwie heil waren und so Dinge unternommen haben am Wochenende?“

Weil sie so davon erzählt hat und es gibt ganz viele Fotos und Videos von meiner Kindheit. Das heißt, ich weiß, dass diese Dinge passiert sind, aber daran kann ich mich nicht mehr erinnern, obwohl ich ein Kind war, das sich an sehr viel erinnern kann. Ich kann mich auch an sehr viele unangenehme Konflikte von meinen Eltern erinnern, als ich noch sehr jung war. Das heißt, es hat nichts mit meinem Gedächtnis zu tun, sondern einfach mit der Tatsache, dass ich mich an das Schöne nicht mehr erinnern kann.

Ich hatte dann eine Woche später diese Session, die nicht eine richtige Session war, sondern einfach sich sehr intim und sehr offen angefühlt hat. Umso später es wurde, desto mehr habe ich mich irgendwie auch getraut, einfach aus mir heraus sprechen zu lassen. Und dann ist dieser Song entstanden, ohne dass ich wirklich wusste, dass ich darüber schreiben will.

Wenn du jetzt diesen Song anhörst, fühlst du dich dann mittendrin oder guckst du eher von außen als Beobachterin darauf?
Lange habe ich von außen draufgeschaut und ich wusste, dass es für mich ein emotionaler Song ist. Ich habe auch lange überlegt, ob ich den viel live spielen kann oder ob es mich zu sehr mitnimmt. Wenn man dann aber an dem Song und an der Produktion arbeitet, dann wird man da sehr rational. Man hört ihn so oft und man arbeitet so lange an anderen Parts von dem Song, die nichts mit dem Text zu tun haben, dass man so ein bisschen abstumpft.

Aber als es dann um die Promo ging, um Fotos, um Videos und aber auch um die Gespräche, in denen ich meinen Eltern und meiner Familie davon erzählt habe, dass dieser Song rauskommen wird, ist noch mal irgendwie so eine Phase losgegangen, in der ich sehr viele Sachen von meiner Kindheit, sehr viele Dinge, die damit zu tun haben, noch mal erlebt habe.Und das hat mich emotional sehr mitgenommen, dass ich sagen würde eigentlich in den letzten vier Wochen, in dem es sehr um den Song ging in meinem Leben, war ich auch sehr in dem Song drin.

Hast du im Entstehungsprozess des Songs mal gezögert und gedacht: Das ist vielleicht zu ehrlich oder zu privat zum Veröffentlichen?
Als ich den Song geschrieben habe, habe ich überhaupt gar nicht darüber nachgedacht, ob ich den herausbringen werde, sondern es ging einfach darum, Songs zu machen, die gerade aus mir heraus sprechen. Und dann war mir aber relativ schnell klar, dass der so ehrlich und so persönlich ist, dass er eigentlich raus muss. Auch weil er so viel von mir als Person beschreibt.

Aber natürlich habe ich darüber nachgedacht, ob der zu intim ist. Also ich rede nicht schlecht über meine Familie, aber es ist natürlich schon eine intime Geschichte, sich offen zu zeigen und auch über seine Eltern und über seinen Bruder zu reden in dem Song. Da hatte ich schon ein bisschen Angst. Ich habe meinen Eltern auch den Song nicht wirklich vorher gezeigt. Ich hatte nicht das Gefühl, dass sie sagen würden, ich darf den nicht veröffentlichen. Aber ich hatte eher das Gefühl, dass es Reaktionen gibt, die dann in mir auslösen, dass ich den Song nicht mehr veröffentlichen will, weil ich denke: Ist das überhaupt so richtig, was ich da singe? Und das ist meine Perspektive und meine Gefühle – sind die überhaupt wirklich so klar oder gibt es da nicht andere Seiten, die man vielleicht eher in dem Song hätte beleuchten sollen? Davor hatte ich Angst, dass mich das zu sehr beeinflusst.

Aber dann hast du es trotzdem gemacht.
Ja, es gab kein Zurück mehr. Also es gab schon Gespräche, auch kurz bevor der Song herausgekommen ist, wo ich mir ein bisschen unsicher war. Aber ich wusste, der Song muss raus. Und das, was ich da sage, das ist auch wichtig.

Ist das etwas, das dich generell beim Songschreiben beschäftigt und Einfluss nimmt auf deinen Schreibprozess?
Nee, tatsächlich nicht. Also ich habe darüber nie nachgedacht, obwohl meine Songs, glaube ich von vornherein immer schon sehr persönlich waren und auch sehr melancholisch, dass mein Umfeld denken könnte okay: War das jetzt wirklich alles so drastisch für Ronja? Aber ich habe nie darüber nachgedacht, ob der Song vielleicht nicht rauskommen soll, weil er zu verletzlich ist oder so, Das gab es bei mir nicht. Es geht eher darum, den Song verletzlich genug zu machen, damit er rauskommen kann.

Das ist irgendwie für mich so eine Challenge, die ich mir stelle: Immer persönlicher, immer verletzlicher zu werden und vielleicht auch immer mehr unangenehme Gefühle oder Sorgen und Gedanken, die man so in sich trägt, damit auszusprechen. Einfach, weil ich glaube, dass sich zu wenig Menschen verletzlich zeigen und man Dinge tabuisiert, über die man nicht spricht. Also entweder in der Öffentlichkeit oder auch mit seinen Freunden oder mit Familie. Und dadurch dann auch schnell anfängt zu glauben, dass man total verrückt ist, das zu denken oder so Gefühle und Sorgen zu haben, obwohl das so viele Leute haben – also Trennungskind zu sein. Ich weiß, es gibt ein paar Songs darüber, aber es gibt nicht genug Songs darüber, dafür, dass wahrscheinlich jedes zweite Kind Trennungskind ist.

Johanna hatte auch gesagt, dass sie deine Songs sehr persönlich, sehr ehrlich findet – und sie hat sich die Frage gestellt, ob du manchmal Angst hast, zu ehrlich zu sein.
Nein.

Aber ich habe jetzt auch rausgehört: Du willst das ja. Du willst gnadenlos ehrlich sein. Mit dir selbst oder auch mit anderen?
Ich glaube, vor allem mit mir selbst. Also, wenn ich die Songs schreibe, denke ich eigentlich fast nie an den Adressaten und an die Leute, die die Songs hören. Ich schreibe einen Song nicht, weil ich eine bestimmte Gruppe damit erreichen will, sondern vor allem, um für mich einfach etwas zu sagen.

Über das Trennungskind-Dasein habe ich fast nie mit meinen Eltern so richtig gesprochen. Das war natürlich immer präsent, weil ich ja immer Trennungskind sein werde. Auch mit meinen Freunden habe ich wenig darüber gesprochen und manchmal trägt man das dann so lange in sich, dass man das mit so einem Song dann auf einmal für sich selber sagen muss.

Was würdest du sagen, was gibt dir Musik, was Worte allein nicht können?
Ich glaube, in meiner Musik romantisiere ich vor allem Gefühle wie Ängste und Selbstzweifel. Weil man es so schön zusammendichten kann, dass ist irgendwie tragisch, aber trotzdem schön klingt, was es für mich immer einfacher macht, etwas Gutes in Wut oder Trauer oder Herzschmerz zu sehen und mir das dann schönzureden. Dann fühlt es sich automatisch nicht mehr so schwer an.

Und jetzt erscheint deine neue EP Ding im Brustkorb. Worauf freust du dich dabei am meisten?
Ich freue mich darauf, das live zu spielen und die Songs Leuten zu zeigen, die sie durch Algorithmen nicht finden konnten. Weil das ist das, was glaube ich immer am besten funktioniert. Mit Emotionen und mit dem tatsächlichen Dasein komplett man selber zu sein, Leute zu berühren und irgendwie an sich zu ziehen – darauf freue ich mich auf jeden Fall und natürlich auch die Songs nach außen zu geben.

Ich habe auch mit dieser EP jetzt probiert, das Ziel von der ganzen Sache und von dem ganzen Projekt darauf zu legen, diese Songs einfach fertig zu machen und weniger die Erfüllung in Reaktionen zu suchen, sondern eher für mich selbst zu wissen: Ich bin stolz darauf, die Songs gemacht zu haben und es hat viel Arbeit gekostet und ich bin stolz auf alle visuellen Aspekte davon. Die Musikvideos, wie die Fotos aussehen und die Songs klingen. Darauf stolz zu sein und sich erfüllt zu fühlen, anstatt darauf zu warten, was Leute dazu sagen und wo die Songs vielleicht platziert werden. Weil da wird man meistens eh nur enttäuscht.

Was wünschst du dir, was Menschen spüren, wenn sie die Musik hören?
Dass sie eine gewisse Form von Wehmut und Melancholie spüren. Weil das ist ja auch das, was ich gespürt habe, als ich die Songs gemacht habe. Und natürlich auch, dass sie sich gesehen fühlen davon. Also Eine Familie ist natürlich ein gutes Beispiel für einen Song, durch den Leute sich hoffentlich gesehen fühlen. Aber es gibt auch andere Songs auf der EP, bei der ich mir wünsche, dass Leute sich vielleicht gesehen fühlen und merken: Ah, krass! Da konnte jemand in Worte fassen, was ich schon lange fühle, aber dachte, dass ich damit alleine bin. Das wäre, glaube ich, das Schönste, wenn das passiert.

Ist Eine Familie gleichzeitig der Song, der dir am schwersten gefallen ist, als Thema zu verarbeiten? Oder gibt es noch andere, die dir genauso schwer oder noch schwerer gefallen sind?
Ich glaube, es gibt auch einen Song, der mich so sehr emotional nackt fühlen lässt. Der heißt Idiot und der handelt davon, dass man manchmal Fehler macht und falsche Entscheidungen trifft und weiß, dass man das macht – man versteht aber nicht, warum man das macht und es liegt einfach daran, dass man jung ist und man möchte auch unter den Konsequenzen davon leiden. Und man hat vielleicht Eltern, die sagen „Hey Ronja, mach das nicht“ oder man hat Freunde oder ältere Geschwister, die einem sagen „Ey, du solltest es besser nicht machen“, „Sei nicht mit der Person befreundet“ oder „Geh nicht in die Beziehung“ oder „Beende die Beziehung“ oder „Nimm nicht den Job an“ oder was auch immer.

Man hat immer Leute, die das Beste für einen wollen und trotzdem gibt es Momente, in denen man das einfach ignoriert und sagt: Wenn das nach hinten losgeht, dann geht es nach hinten los und auch irgendwie bereit dafür ist, dass das passiert und sich dann aber danach manchmal zu denken, ob man nicht ein Idiot ist, dass man das so gemacht hat. Davon handelt der Song – und das so zuzugeben, das war auch nicht so einfach für mich.

Denkst du gerade, dass du am Anfang einer Reise bist oder bist du mitten auf dem Weg?
Ich würde sagen, ich bin tatsächlich schon fast am Ende der Reise für die EP.

Und für deine Reise bzw. deinen Weg als Musikerin?
Hoffentlich ganz am Anfang.

Wenn du nochmal neu starten würdest, Songs zu schreiben, was würdest du dir selbst mit auf den Weg geben?
Ich glaube, ich würde nichts anders machen, als ich es gemacht habe, weil es gab schon immer Momente, in denen ich auch sehr daran gezweifelt habe oder dachte, das ist nicht gut so, wie ich es mache und ich mir gewünscht hatte, ich wäre mehr sichtbar für Menschen, für die ich nicht sichtbar war.

Aber ich glaube, so wie ich es gemacht habe, war es perfekt so wie es ist. Weil dadurch stehe ich heute hier und habe die Freiheiten, für die andere wahrscheinlich sehr viel geben würden und kann Dinge machen, für die andere sehr viel tun würden, damit sie das machen dürften. Ich bin nach Georgien geflogen, um die Musikvideos zu drehen für diese EP. Das machen zu dürfen, das ist absurd. Dass man da vierzig Leute hat, die mit einem nachts irgendwo stehen und das drehen, was man in seinem Kopf hatte zu den Songs, die man geschrieben hat.

Ich würde einfach sagen, dass man sehr geduldig sein soll. Dass man immer sein Bestes geben sollte, aber auch wissen sollte, dass das nicht immer dafür sorgt, dass man überall hinkommt, nur weil man sein Bestes gibt. Und ansonsten sollte man sich selbst treu bleiben, sich viel damit befassen, wer man eigentlich sein will und echt sein – echt und ehrlich die Songs schreiben und nicht probieren, in irgendwas reinzupassen und sich zu sagen, ich möchte genauso sein wie der und die Künstlerin oder Nina Chuba 2.0. oder so. Das funktioniert am Ende nicht. Inspiration ist zwar wichtig, aber man sollte sich, glaube ich, einfach genug Zeit geben und genug Zeit lassen, herauszufinden, was man mit seinem Projekt machen möchte und akzeptieren, wenn Türen sich noch nicht öffnen.

Das hast du ja alles gemacht.
Ja, deswegen würde ich das nicht anders machen. Ich würde es nochmal machen.

Danke!
Danke dir!

Das vollständige Interview mit Ronja erscheint am 28. November 2025 in der Mentling Ausgabe #7.

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